Experten für psychische Gesundheit aus Forschung, Industrie und Zulassungsbehörden haben neue Kriterien vorgeschlagen, um die Art von Depression zu definieren, die mit den derzeitigen Medikamenten und Therapien nicht wirksam behandelt werden kann.
Der Bericht der Expertengruppe zielt darauf ab, einheitliche Definitionen für die künftige Forschung und insbesondere für die Planung klinischer Studien für neue Medikamente bereitzustellen, um die Entwicklung maßgeschneiderter und wirksamerer Behandlungen für Menschen mit dieser schwierigen Erkrankung zu unterstützen.
Der in der Fachzeitschrift Molecular Psychiatry veröffentlichte Bericht stützt sich auf eine bekannte Methode zur Konsensfindung, die Delphi-Methode. Mit der Delphi-Methode wurden die Ansichten von über 60 Experten auf dem Gebiet der Depression gesammelt und zusammengefasst. Der Bericht wurde von Forschern des Institute of Psychiatry, Psychology & Neuroscience (IoPPN) des King’s College London und des National Institute for Health Research (NIHR) Maudsley Biomedical Research Centre geleitet.
Behandlungsresistente Depressionen (treatment-resistant depression, kurz TRD) betreffen bis zu 30 Prozent der Erwachsenen mit einer schweren depressiven Störung, die durch anhaltende Gefühle der Traurigkeit und des Interessenverlusts gekennzeichnet ist und an der weltweit etwa 230 Millionen Menschen leiden.
Der Begriff TRD wird verwendet, um diejenigen Menschen zu beschreiben, die nicht auf eine zum gegenwärtigen Zeitpunkt als angemessen bezeichnete antidepressive Behandlung ansprechen. Das Problem: es gibt bis heute keinen Konsens darüber, was unter „angemessener“ Behandlung zu verstehen ist.
Im Bericht der Experten wird daher nachdrücklich empfohlen, endlich eine klarere Definition von TRD festzulegen. Ihr Vorschlag sieht vor, Menschen als TRD einzustufen, wenn sie nach der Einnahme von mindestens zwei verschiedenen Antidepressiva nur eine minimale Verringerung der Symptome (um 25 % oder weniger) erfahren. Sie schlugen außerdem vor, eine Unterscheidung zwischen TRD und partiell ansprechender Depression (PRD) zu treffen, bei der Menschen mit PRD eine Verringerung der Symptome um 25 bis 50 % nach Einnahmen von mindestens einem Antidepressivum aufweisen. Diese Unterscheidung zwischen diesen Stufen der Therapieresistenz wird nach Ansicht der Autoren nützlich sein, um festzustellen, wer für bestimmte Studien und schließlich für gezielte persönlicher ausgerichtete Behandlungen in Frage kommt.
Der Hauptautor der Studie, Professor Carmine Pariante vom IoPPN, erklärte: „Wir befinden uns in einer sehr spannenden Zeit für Forschung und Praxis im Bereich der behandlungsresistenten Depression, in der sich eine Reihe innovativer neuer Ansätze abzeichnet, wie z. B. Psychedelika, entzündungshemmende Medikamente und Hirnstimulationstechniken. Wir hoffen, dass unser Bericht den Weg für die Akzeptanz und Umsetzung einer Standarddefinition ebnen wird, um sicherzustellen, dass diese neuen Therapien bei Patienten, denen die verfügbaren Antidepressiva derzeit nicht helfen, wirksam sind.“
Die Autoren erörterten auch die Bewertung von Depressionen und forderten eine stärkere Standardisierung und gemeinsame Praxis in diesem Bereich in Bezug auf die Instrumente, die zur Erstellung einer Diagnose oder zur Bewertung der Veränderung depressiver Symptome verwendet werden. Sie waren sich einig, dass die Erhebung biologischer Daten, wie Blutproben und Gehirnscans, konsequent durchgeführt werden sollte, um mögliche Marker oder Messgrößen zu ermitteln, die Menschen mit unterschiedlichen Formen von Depressionen identifizieren könnten, die möglicherweise auf verschiedene Arten von Behandlung ansprechen.
Warum wird der Nocebo-Effekt nicht in Betracht gezogen?
Erstaunlich ist, dass die Experten in ihrem Bericht trotz des hohen Anteils von bis zu 30 Prozent behandlungsresistenter Depressionen in keiner Weise auf den mittlerweile sehr gut erforschten Nocebo-Effekt eingehen.
Ein Nocebo-Effekt liegt vor, wenn negative Erwartungen des Patienten an eine Behandlung dazu führen, dass die Behandlung durch eine Therapie, ein Medikament oder ein Placebo negativer wirkt, als sie es sonst hätte. Wenn ein Patient beispielsweise eine Nebenwirkung eines Medikaments, wobei es sich auch um ein Placebo handeln kann, erwartet, kann er diese Wirkung erleiden, selbst wenn die verabreichte Substanz diese Wirkung nachweislich gar nicht haben kann. Das komplementäre Effekt, der Placebo-Effekt, tritt auf, wenn positive Erwartungen ein Ergebnis verbessern. Sowohl Placebo- als auch Nocebo-Effekte sind vermutlich psychogen, können aber messbare Veränderungen im Körper hervorrufen. Nocebo-Effekte können Übelkeit, Bauchschmerzen, Juckreiz, Blähungen, Depressionen, Schlafprobleme, Appetitlosigkeit, sexuelle Dysfunktion und schwere Hypotonie umfassen.
Eine Metastudie aus dem Jahr 2017 ermittelte einen Anteil von bis zu 31% für Nocebo-Reaktionen bei der pharmakologischen Behandlung einer anhaltenden depressiven Störung.
Wer den 30 Prozent behandlungsresistenter Depressionen beikommen möchte, sollte also auch und zuerst hier ansetzen, und zwar im Rahmen ganzheitlicher Behandlungsansätze, die sich genauer mit vorliegenden negativen Erwartungshaltungen des Patienten beschäftigen. Eine negative Erwartungshaltung kann unbewusst sein und auf Lernmechanismen wie älteren, auch frühkindlichen Konditionierungen beruhen. Eine negative Erwartung kann so zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden, wobei (Fehl-)Diagnosen oder ausführliche Erläuterungen zu möglichen Nebenwirkungen diesen Effekt noch verstärken können.
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