Experten fordern Neuklassifikation von Postpartum-Psychose

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M.D. Redaktion, Veröffentlicht am: 03.11.2025, Lesezeit: 7 Minuten

In einer bahnbrechenden Initiative rufen internationale Experten für Frauengesundheit – darunter die renommierte Psychiaterin Jennifer Payne, MD, von UVA Health – dazu auf, die Postpartum-Psychose als eigenständige Kategorie psychischer Erkrankungen anzuerkennen, um die Versorgung frischgebackener Mütter entscheidend zu verbessern und Leben von Müttern und Babys zu retten.

Was ist Postpartum-Psychose?

Postpartum-Psychose stellt eine der schwersten psychiatrischen Erkrankungen dar, die Frauen unmittelbar nach der Geburt ereilen kann. Schätzungen zufolge trifft sie bis zu 2,6 von 1.000 Mütter, wobei der Beginn oft abrupt und dramatisch erfolgt. Betroffene erleben eine Mischung aus manischen Episoden, tiefen Depressionen mit psychotischen Elementen, massiven Denkstörungen sowie starker Agitation und Reizbarkeit.

Die Erkrankung gilt als absoluter psychiatrischer Notfall. Ohne sofortige Intervention drohen Suizid oder Kindstötung, weshalb eine stationäre Aufnahme in der Regel unumgänglich ist. Dennoch wird diese klar abgrenzbare Störung in den maßgeblichen Diagnosehandbüchern DSM-5 und ICD nicht als eigenständige Entität geführt.

Warum eine eigene Klassifikation notwendig ist

Derzeit finden sich in den offiziellen Klassifikationssystemen lediglich vage Hinweise auf einen peripartalen Beginn psychischer Störungen. Diese Formulierung wird der Realität nicht gerecht, da Postpartum-Psychose häufig erst Wochen oder Monate nach der Entbindung ausbricht. Eine präzise Neudefinition würde nicht nur die Diagnostik beschleunigen, sondern auch evidenzbasierte Therapieansätze fördern und die Abrechnung spezialisierter Behandlungen erleichtern.

Jennifer Payne und ihre internationalen Kollegen argumentieren, dass die derzeitige Einordnung die besonderen biologischen und klinischen Merkmale der Erkrankung ignoriert. Nur durch eine eigenständige Kategorie lassen sich klare diagnostische Kriterien etablieren, die eine rasche und zielgerichtete Intervention ermöglichen. Dies würde letztlich die Forschung zur neurobiologischen Grundlage vorantreiben und präventive Strategien entwickeln helfen.

Behandlungserfolge und Risikofaktoren

Die gute Nachricht lautet, dass Frauen mit Postpartum-Psychose auf etablierte Medikamente wie Lithium außerordentlich gut ansprechen. Diese Substanz, die auch bei bipolaren Störungen zum Einsatz kommt, führt in vielen Fällen innerhalb weniger Tage zu einer deutlichen Besserung. Tatsächlich entwickeln etwa 50 Prozent der Betroffenen im Verlauf eine bipolare Störung, während umgekehrt Schwangere mit bestehender bipolarer Diagnose ein extrem hohes Risiko für Postpartum-Psychose tragen.

Frühzeitige Erkennung und Intervention können präventiv wirken. Angehörige sollten besonders auf plötzliche Stimmungswechsel, Realitätsverlust oder aggressive Impulse achten und sofort fachärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Die konsequente Einnahme verordneter Medikamente stellt einen entscheidenden Faktor für den Behandlungserfolg dar.

Der internationale Konsensus

Jennifer Payne hat gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus Großbritannien, den Niederlanden, Indien und weiteren Ländern sowie in enger Abstimmung mit Patientenverbänden und der American Psychiatric Association ein umfassendes Konsensus-Statement erarbeitet. Dieses wurde im renommierten Fachjournal Biological Psychiatry veröffentlicht und steht als Open-Access-Artikel zur freien Verfügung.

Die Arbeitsgruppe schlägt konkrete diagnostische Kriterien vor, darunter das Auftreten von Depressionen, Wahnvorstellungen, Halluzinationen und manischen Symptomen im postpartalen Zeitfenster. Diese Kriterien sollen in die nächsten Revisionen von DSM und ICD aufgenommen werden, um weltweit einheitliche Standards zu schaffen.

Auswirkungen auf Forschung und Prävention

Eine eigenständige Klassifikation würde die Erforschung der zugrunde liegenden neurobiologischen Mechanismen massiv beschleunigen. Aktuelle Studien deuten auf hormonelle Dysregulationen, Schlafentzug und genetische Prädispositionen hin. Postpartum-Psychose gilt als behandelbar und potenziell verhinderbar, sobald Risikofaktoren frühzeitig identifiziert werden.

In der klinischen Praxis zeigen sich beeindruckende Erfolgsgeschichten. So erholte sich eine 32-jährige Mutter, die drei Wochen nach der Geburt Wahnvorstellungen entwickelte, ihr Baby sei vom Teufel besessen, nach zehn Tagen Lithium-Therapie vollständig. Spezialisierte Mutter-Kind-Einheiten erreichen signifikant bessere Outcomes als herkömmliche psychiatrische Stationen.

Herausforderungen in der aktuellen Praxis

Viele betroffene Frauen erhalten zunächst Fehldiagnosen wie postpartale Depression, was die richtige Behandlung verzögert und das Risiko schwerer Komplikationen erhöht. Die fehlende spezifische Kodierung erschwert zudem die Finanzierung aufwendiger Therapieprogramme. Krankenkassen erkennen die Dringlichkeit oft nicht ausreichend.

Kliniken könnten durch standardisierte Screening-Fragebögen unmittelbar nach der Entbindung, gezielte Schulungen von Hebammen in der Früherkennung psychotischer Symptome sowie den Aufbau interdisziplinärer Teams aus Psychiatern, Gynäkologen und Pädiatern die Versorgung verbessern. Solche Maßnahmen hätten direkte positive Auswirkungen auf die Sicherheit von Müttern und Kindern.

Globale Perspektiven und kulturelle Unterschiede

In Indien werden psychotische Episoden nach der Geburt häufig mit spirituellen Erklärungen verwechselt, was professionelle Hilfe verzögert. Die Niederlande hingegen verfügen über ein flächendeckendes Netz spezialisierter Mutter-Baby-Stationen. Wo Postpartum-Psychose konsequent ernst genommen wird, sinken mütterliche Suizidraten dramatisch.

Deutschland könnte von diesen internationalen Modellen profitieren. Der Ausbau regionaler Kompetenzzentren und die Integration reproduktiver Psychiatrie in die Regelversorgung stellen dringende Handlungsfelder dar.

Die Rolle von Jennifer Payne

Als Senior-Autorin des Konsensus-Statements bringt Jennifer Payne ihre langjährige Expertise in der reproduktiven Psychiatrie ein. An der University of Virginia School of Medicine leitet sie Forschungsprojekte zur biologischen Basis postpartaler psychischer Erkrankungen. Ihre Arbeit hat bereits zur Etablierung spezialisierter Ambulanzen geführt und beeinflusst internationale Leitlinien.

Payne betont nachdrücklich, dass die Anerkennung als eigenständige Erkrankung der entscheidende Schritt zu besseren Behandlungsergebnissen darstellt. Ihre Vision umfasst präventive Ansätze durch Biomarker-gestützte Risikostratifizierung bereits in der Schwangerschaft.

Zukunftsperspektiven

Die Aufnahme in DSM-6 und ICD-12 würde weltweite Standards setzen und die Versorgung revolutionieren. Bis dahin empfehlen Experten die Einführung provisorischer Kodierungen in Kliniken. Forschungsteams arbeiten intensiv an Blut-Biomarkern, die Postpartum-Psychose vorhersagen könnten.

Präventive Lithium-Gabe bei Hochrisiko-Patientinnen wird in kontrollierten Studien erprobt. Betroffene und Angehörige sollten sich über Symptome informieren, offen mit Hebammen über psychische Vorbelastungen sprechen und bei Verdacht sofort eine psychiatrische Vorstellung fordern.

Häufig gestellte Fragen (FAQs)

Wie unterscheidet sich Postpartum-Psychose von postpartaler Depression? Während postpartale Depression durch anhaltende Traurigkeit, Antriebslosigkeit und Schuldgefühle gekennzeichnet ist und sich schleichend entwickelt, tritt Postpartum-Psychose akut mit psychotischen Symptomen wie Halluzinationen, Wahnvorstellungen und Realitätsverlust auf. Sie stellt einen psychiatrischen Notfall dar, der innerhalb von Stunden bis Tagen lebensbedrohlich werden kann, während postpartale Depression zwar behandlungsbedürftig, aber selten akut gefährlich ist.

Kann Postpartum-Psychose bei jeder Schwangerschaft erneut auftreten? Das Rezidivrisiko liegt bei etwa 30–50 Prozent bei nachfolgenden Geburten, steigt jedoch auf über 70 Prozent bei Frauen mit vorheriger Episode oder bipolarer Störung. Eine gezielte Prophylaxe mit Lithium oder anderen Stimmungsstabilisatoren unmittelbar nach der Entbindung kann das Risiko signifikant senken. Regelmäßige psychiatrische Begleitung während der Schwangerschaft ist daher essenziell.

Ist Stillen während einer Lithium-Therapie möglich? Grundsätzlich ja, allerdings unter strenger ärztlicher Überwachung. Lithium geht in geringen Mengen in die Muttermilch über, weshalb regelmäßige Blutspiegelkontrollen bei Mutter und Kind notwendig sind. Alternativmedikamente wie Olanzapin oder Quetiapin werden bei Stillwunsch häufig bevorzugt, da sie ein günstigeres Profil zeigen. Die Entscheidung erfolgt individuell unter Abwägung von Nutzen und Risiko.

Welche Rolle spielen genetische Faktoren? Familien- und Zwillingsstudien belegen eine starke genetische Komponente. Frauen mit erstgradig Verwandten mit bipolarer Störung oder früherer Postpartum-Psychose haben ein deutlich erhöhtes Risiko. Aktuelle Forschungsansätze zielen auf die Identifikation spezifischer Genmutationen ab, die in Kombination mit hormonellen Veränderungen die Erkrankung triggern. Genetische Beratung kann bei Planung weiterer Schwangerschaften hilfreich sein.

Gibt es Unterschiede in der Versorgung zwischen Stadt und Land? Ja, in ländlichen Regionen Deutschlands fehlen oft spezialisierte Mutter-Kind-Einheiten und reproduktive Psychiater. Dies führt zu längeren Anfahrtswegen und verzögerten Interventionen. Telemedizinische Angebote und regionale Kooperationen zwischen Kliniken und niedergelassenen Fachärzten könnten diese Versorgungslücken schließen. Modellprojekte in Bayern und Niedersachsen zeigen bereits positive Effekte.

Können auch Adoptivmütter oder Partner Postpartum-Psychose entwickeln? Nein, die Erkrankung ist eng mit den hormonellen Umstellungen nach einer Geburt verknüpft und tritt daher ausschließlich bei biologischen Müttern auf. Partner können jedoch sekundäre Belastungsstörungen, Depressionen oder Angststörungen entwickeln, insbesondere wenn sie die primäre Bezugsperson in der Krise werden. Paartherapeutische Angebote und Selbsthilfegruppen spielen hier eine wichtige Rolle.

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einem medizinischen Thema, einem Gesundheitsthema oder einem oder mehreren Krankheitsbildern. Dieser Artikel dient nicht der Selbst-Diagnose und ersetzt auch keine Diagnose durch einen Arzt oder Facharzt. Bitte lesen und beachten Sie hier auch den Hinweis zu Gesundheitsthemen!

Quelle:

  • Bergink, V., et al. (2025). Postpartum Psychosis and Bipolar Disorder: Review of Neurobiology and Expert Consensus Statement on classification. Biological Psychiatrydoi.org/10.1016/j.biopsych.2025.10.016

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