Adipositas-Risiken verändern sich mit Alter und Geschlecht

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M.D. Redaktion, Veröffentlicht am: 29.10.2025, Lesezeit: 7 Minuten

Eine umfassende Analyse der UK Biobank mit mehr als 360.000 Teilnehmern enthüllt durch eine innovative zeitaufgelöste Mendelsche Randomisierung, dass die gesundheitlichen Risiken von Adipositas – gemessen am Body-Mass-Index (BMI) – über die Lebensspanne hinweg nicht konstant bleiben, sondern je nach Alter und Geschlecht erheblich schwanken und durch präventive Maßnahmen wie Cholesterinsenker oder Blutdrucktherapie in der Lebensmitte wirksam abgemildert werden können.

Hintergrund: Adipositas als dynamisches Risiko

Adipositas betrifft weltweit fast eine Milliarde Erwachsene und gilt als Haupttreiber für Typ-2-Diabetes, koronare Herzkrankheit, Vorhofflimmern und Arthrose. Bisherige Untersuchungen haben Risiken meist über das gesamte Erwachsenenalter gemittelt, wodurch wichtige Unterschiede im zeitlichen Verlauf übersehen wurden. Der menschliche Körper verändert sich jedoch durch hormonelle Umstellungen, Verhaltensänderungen und medizinische Versorgung – Faktoren, die den Einfluss von Übergewicht auf die Gesundheit maßgeblich modulieren.

Die neue Studie setzt hier an und nutzt genetische Varianten als kausale Instrumente. Durch die sogenannte zeitaufgelöste Mendelsche Randomisierung wird erstmals sichtbar, wie sich der schädliche Effekt eines dauerhaft erhöhten BMI über Jahrzehnte hinweg verändert. Diese Methode überwindet die Schwächen herkömmlicher Analysen, die von einer zeitlich konstanten Wirkung ausgehen.

Studiendesign: Genetik als präzises Messwerkzeug

Die Forscher untersuchten 361.906 Teilnehmer der UK Biobank mit europäischer Abstammung, deren genetische Daten mit umfangreichen Krankenakten verknüpft waren. Der BMI wurde bei Studienbeginn alters- und geschlechtsspezifisch standardisiert, das Follow-up auf das 76. Lebensjahr begrenzt, um Verzerrungen durch seltene Ereignisse im hohen Alter zu vermeiden.

Als genetische Instrumente dienten polygenetische Scores, die aus unabhängigen Teilstichproben gewonnen wurden. Durch spezielle Filterverfahren wurde sichergestellt, dass nur Varianten berücksichtigt wurden, die primär den BMI beeinflussen und nicht umgekehrt durch die Erkrankung verändert werden. Ein quartisches Polynom modellierte den altersbedingten Rückgang der genetischen BMI-Wirkung, während ein additives Hazard-Modell sowohl kumulative als auch augenblickliche Risiken erfasste.

Ergebnisse: Risiken folgen eigenen Zeitkurven

Ein dauerhaft erhöhter BMI erhöht kausal das Risiko für alle vier untersuchten Erkrankungen – doch das Ausmaß und der zeitliche Verlauf unterscheiden sich deutlich. Bei Arthrose setzt der schädliche Effekt früh ein und steigt kontinuierlich an, mehr als zwei Jahrzehnte bevor Vorhofflimmern nennenswert durch Adipositas beeinflusst wird. Dies spiegelt wider, dass mechanische Belastungen der Gelenke früher wirken als komplexe kardiale Veränderungen durch Fettgewebe und Begleiterkrankungen.

Beim Typ-2-Diabetes steigt das Risiko ab der Lebensmitte stark an, erreicht zwischen 60 und 70 Jahren ein Plateau und flacht danach ab. Besonders auffällig ist ein temporäres Risikotal bei Frauen ab etwa 60 Jahren, das rund ein Jahrzehnt anhält. Dieser Effekt ließ sich weder durch das Menopausetiming noch durch eine Hormontherapie erklären.

Die koronare Herzkrankheit zeigt das dramatischste Muster: Ab dem 50. Lebensjahr sinkt das durch Adipositas bedingte Risiko deutlich, erreicht zwischen 65 und 70 Jahren nahezu null und steigt danach wieder an. Dieser U-förmige Verlauf war besonders ausgeprägt bei Teilnehmern, die bei Studienbeginn cholesterinsenkende Medikamente einnahmen, aber noch keine Herzkrankheit hatten – ein klarer Hinweis darauf, dass Statine in der Primärprävention den Adipositas-Effekt in dieser Lebensphase nahezu aufheben.

Geschlechtsspezifische Muster und genetische Mechanismen

Männer zeigen durchweg stärkere BMI-bedingte Risiken für Typ-2-Diabetes, koronare Herzkrankheit und Vorhofflimmern als Frauen. Bei Arthrose sind die Effekte bis etwa 60 Jahre vergleichbar, danach deuten die Daten auf eine leichte Abnahme bei Frauen hin, allerdings mit statistischer Unsicherheit.

Durch Cluster-Analysen genetischer Varianten konnten die Forscher unterschiedliche Wirkpfade identifizieren. Bestimmte „High-Risk“-Varianten waren maßgeblich für das Risikotal bei koronarer Herzkrankheit und das geschlechtsspezifische Diabetes-Muster bei Frauen verantwortlich. Interessanterweise nehmen die meisten BMI-steigernden genetischen Varianten mit dem Alter an Wirkungskraft ab – ein Effekt, den die neue Methode erstmals präzise quantifizieren konnte.

Klinische Konsequenzen: Prävention zur richtigen Zeit

Die Ergebnisse unterstreichen, dass Prävention nicht einheitlich über alle Lebensphasen hinweg erfolgen sollte. Besonders die Jahre zwischen 50 und 70 bieten ein therapeutisches Fenster, in dem medizinische Interventionen den Schaden durch Adipositas erheblich reduzieren können. Regelmäßige BMI-Kontrollen ab dem 40. Lebensjahr, konsequentes Lipid- und Blutdruckmanagement ab 50 sowie gezieltes Diabetes-Screening bei Frauen in den Jahren 55 bis 65 sind praktische Ansätze, die aus der Studie abgeleitet werden können.

Tägliche moderate Bewegung von mindestens 30 Minuten trägt nicht nur zur Gewichtsreduktion bei, sondern entlastet Gelenke und verbessert die kardiovaskuläre Gesundheit – unabhängig vom Alter. Auch nach dem 70. Lebensjahr bleibt Gewichtsmanagement sinnvoll, insbesondere zur Vermeidung von Arthrose-Verschlechterung und Vorhofflimmern.

Methodik und Limitationen

Die zeitaufgelöste Mendelsche Randomisierung übertrifft klassische Ansätze, indem sie dynamische Effekte sichtbar macht. Simulationen bestätigten die Robustheit der Methode selbst bei alternden genetischen Instrumenten. Sensitivitätsanalysen schlossen Verzerrungen durch Kohortenselektion oder Medikamenteneinnahme weitgehend aus.

Dennoch gibt es Einschränkungen: Die Methode geht von einer sofortigen biologischen Reaktion auf BMI-Änderungen aus, was in der Realität verzögert sein kann. Zudem basieren die genetischen Instrumente auf Erwachsenendaten, wodurch Effekte im Kindes- und Jugendalter weniger präzise erfasst werden. Die Kohorte besteht ausschließlich aus Personen europäischer Abstammung – Ergebnisse für andere Ethnien müssen separat validiert werden.

Fazit: Individualisierte Adipositas-Strategien

Adipositas ist kein statisches Gesundheitsrisiko, sondern ein hochdynamisches Phänomen, das von Alter, Geschlecht und medizinischer Versorgung abhängt. Die Lebensmitte erweist sich als entscheidendes Zeitfenster für präventive Maßnahmen, die Herzinfarkte, Diabetes und Gelenkschäden verhindern können. Ärzte und Betroffene sollten BMI-Effekte nicht linear bewerten, sondern alters- und geschlechtsspezifisch interpretieren, um Therapien optimal zu timen.

Häufig gestellte Fragen (FAQs)

Verliert Adipositas im höheren Alter tatsächlich an Schädlichkeit, wie das Risikotal bei Herzkrankheit suggeriert? Nein, das scheinbare Tal ist kein biologischer Effekt, sondern das Ergebnis erfolgreicher medizinischer Prävention. Ohne Statine oder Blutdrucksenker würde das Risiko für koronare Herzkrankheit durch Adipositas kontinuierlich steigen. Nach dem 70. Lebensjahr kehrt das Risiko zurück, weil die Schutzwirkung der Medikamente nachlässt oder Komorbiditäten zunehmen. Das unterstreicht die Notwendigkeit lebenslanger Vorsorge, nicht den Verlust der Gefährlichkeit von Übergewicht.

Warum zeigt sich das Diabetes-Risikotal nur bei Frauen – und was bedeutet das für die Praxis? Das temporäre Absinken des BMI-bedingten Diabetes-Risikos bei Frauen ab 60 Jahren ist genetisch bedingt und unabhängig von Menopause oder Hormontherapie. Möglicherweise nehmen Frauen in dieser Phase stärker präventive Angebote wahr, etwa durch bessere Adhärenz zu Lebensstiländerungen oder häufigere Arztbesuche. Klinisch bedeutet das: Auch wenn das Risiko vorübergehend sinkt, sollten Screening-Intervalle nicht verlängert werden. Im Gegenteil – Frauen in dieser Altersgruppe profitieren besonders von intensiver Glukosekontrolle und Gewichtsmanagement, um den erwarteten Risikoanstieg nach 70 vorzubeugen.

Ist Gewichtsreduktion nach dem 70. Lebensjahr noch wirksam, wenn die Risiken ohnehin steigen? Ja, und zwar besonders effektiv bei Arthrose und Vorhofflimmern. Jede Reduktion des BMI entlastet die Gelenke mechanisch und reduziert systemische Entzündungen, die beide Erkrankungen antreiben. Studien zeigen, dass selbst moderate Gewichtsverluste von 5–10 % im hohen Alter die Mobilität verbessern und das Vorhofflimmern-Risiko senken können. Zudem verbessert sich die Medikamentenverträglichkeit. Gewichtsmanagement bleibt also ein zentraler Baustein der Altersmedizin – nicht trotz, sondern gerade wegen der kumulativen Effekte.

Können die Ergebnisse auf Menschen nicht-europäischer Herkunft übertragen werden? Noch nicht mit Sicherheit. Die genetischen Instrumente wurden in einer europäisch-stämmigen Kohorte entwickelt, und BMI-Wirkungen variieren ethnisch bedingt durch Unterschiede in Fettverteilung, Muskelmasse und genetischen Risikofaktoren. Asiatische Populationen entwickeln beispielsweise bei niedrigerem BMI bereits metabolische Störungen. Replikationsstudien in diversen Kohorten wie der All of Us-Initiative in den USA oder asiatischen Biobanken sind notwendig, um universelle und populationsspezifische Empfehlungen abzuleiten.

Spielen psychosoziale Faktoren eine Rolle bei den geschlechtsspezifischen Risikomustern? Die Studie untersuchte dies nicht direkt, aber indirekte Hinweise deuten darauf hin. Das weibliche Diabetes-Tal könnte mit höherer Inanspruchnahme präventiver Gesundheitsangebote zusammenhängen – Frauen suchen in der Lebensmitte häufiger Arztpraxen auf als Männer. Auch soziale Rollen, Stressbelastung und Ernährungsverhalten unterscheiden sich geschlechtsspezifisch und beeinflussen den BMI-Verlauf. Zukünftige Analysen sollten psychosoziale Variablen einbeziehen, um präzisere individualisierte Präventionsstrategien zu entwickeln.

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einem medizinischen Thema, einem Gesundheitsthema oder einem oder mehreren Krankheitsbildern. Dieser Artikel dient nicht der Selbst-Diagnose und ersetzt auch keine Diagnose durch einen Arzt oder Facharzt. Bitte lesen und beachten Sie hier auch den Hinweis zu Gesundheitsthemen!

Quelle:

  • Karlsson, T., Hadizadeh, F., Rask-Andersen, M., Schmitz, D., & Johansson, Å. (2025). Time-resolved Mendelian randomization detects substantial variation in the detrimental effect of obesity throughout life. Science Advances 11(43). DOI: 10.1126/sciadv.adv0926. https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adv0926

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