In einer bahnbrechenden, vorwiegend staatlich finanzierten Studie, die heute in den Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht wurde und bereits am 21. Oktober 2025 vorab präsentiert worden ist, berichten Forscher der Johns Hopkins Medicine unter Leitung eines internationalen Teams, dass die bereits zugelassenen Analgetika Bupivacain und Rimegepant nicht nur tumorbedingte Schmerzen bei Mäusen mit Osteosarkom-ähnlichen Tumoren lindern, sondern gleichzeitig das unkontrollierte Wachstum und die Ausbreitung des aggressiven Knochentumors Osteosarkom signifikant verlangsamen – ein vielversprechender Ansatz zur Umwidmung bekannter Medikamente in der Krebsbehandlung.
ÜBERSICHT
Nervenwachstum fördert Tumorprogression
Periphere sensorische Nerven infiltrieren Osteosarkome und verstärken durch die Freisetzung von Signalproteinen sowohl die Nerven- als auch die Blutgefäßbildung im Tumor. Die Studie zeigt, dass die Blockade dieser Nervensignale das Tumorwachstum hemmt. Besonders die Proteine CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide), TrkA (Tropomyosin Receptor Kinase A) und NGF (Nerve Growth Factor) stehen im Zentrum der tumorfördernden Kommunikation.
Wirkmechanismus der Medikamente
- Bupivacain: Lokalanästhetikum, blockiert Natriumkanäle und unterbricht damit die neuronale Signalübertragung.
- Rimegepant: CGRP-Rezeptor-Antagonist, ursprünglich gegen Migräne zugelassen, hemmt gezielt die CGRP-Signalkaskade. Beide Substanzen reduzieren nachweislich die Innervation und Angiogenese im Osteosarkom.
Mäuse-Modell bestätigt doppelten Effekt
In genetisch modifizierten Mäusen mit gehemmter TrkA-Signaling-Aktivität beobachteten die Wissenschaftler:
- Deutlich reduzierte Nervenbildung im Tumor.
- Verlangsamtes Tumorwachstum und geringere Metastasierung.
- Signifikant verlängerte Überlebenszeit. Zusätzlich sank die Anzahl tumorassoziierter Makrophagen – entzündungsfördernde Immunzellen, die Chemotherapie-Resistenz begünstigen.
Translation in die Humanmedizin
Gewebeproben menschlicher Osteosarkome zeigten identische NGF-TrkA-Aktivität mit erhöhter Nerven- und Gefäßdichte. Dorsalwurzelganglien (DRG) von Patienten mit tumorbedingtem Schmerz wiesen erhöhte CGRP-Expression und Entzündungsmarker auf.
Bupivacain und Rimegepant im Osteosarkom-Modell
Die Gabe beider FDA-zugelassener Medikamente führte bei Mäusen zu:
- Reduzierter tumorassoziierter Innervation.
- Gehemmter Angiogenese.
- Nachhaltiger Tumorregression. „Diese Ergebnisse legen nahe, dass eine gezielte Blockade der CGRP-NGF-TrkA-Achse nicht nur Schmerzen lindert, sondern auch die Tumorbiologie direkt beeinflusst“, erklärt Studienleiterin Dr. Sowmya Ramesh.
Ironie der Forschungsgeschichte
Interessanterweise verfolgte das James Laboratory zuvor das gegenteilige Ziel:
„Früher wollten wir NGF-TrkA-Signaling verstärken, um die Knochenheilung nach Frakturen zu fördern. Heute blockieren wir es, um Osteosarkome zu bekämpfen.“ – Prof. Aaron James, Leiter des Labors Dies unterstreicht die Kontextabhängigkeit biologischer Signalwege.
Nächste Forschungsschritte
Das Team plant nun:
- Präzise Aufklärung der neuronalen Reaktion auf Tumorzellen.
- Untersuchung des Verhaltens von Nervenenden in Echtzeit.
- Vorbereitung erster klinischer Pilotstudien am Menschen.
Praktische Relevanz für Patienten
Bis zur klinischen Anwendung können behandelnde Ärzte:
- Bei therapieresistenten Osteosarkom-Schmerzen frühzeitig Bupivacain-Infiltrationen erwägen.
- CGRP-Antagonisten wie Rimegepant als Off-Label-Option in palliativen Konzepten prüfen.
- Interdisziplinäre Tumorkonferenzen um neuropathische Schmerzkomponenten erweitern.
Finanzierung und Team
Die Studie wurde unterstützt durch:
- Mehrere NIH-Grants (u. a. P01 AG066603, R01 AR079171).
- Department of Defense (USAMRAA HT9425-24-1-0051).
- Alex’s Lemonade Stand Foundation, American Cancer Society, Maryland Stem Cell Research Foundation. Das internationale Autorenteam umfasst Experten von Johns Hopkins, Memorial Sloan Kettering, University of Maryland, UT Dallas, UT Southwestern und University of Wisconsin-Madison.
Molekulare Präzision als Zukunft der Krebstherapie
Die Arbeit demonstriert exemplarisch, wie die Neurologie die Onkologie bereichert. Durch die gezielte Unterbrechung neuron-tumoraler Kommunikation eröffnen sich völlig neue Therapieansätze – insbesondere bei Tumoren mit starker nervaler Infiltration wie Osteosarkom, Pankreaskarzinom oder Prostatakrebs.
Häufig gestellte Fragen (FAQs)
Können Bupivacain und Rimegepant bereits heute gegen Osteosarkom eingesetzt werden?
Derzeit sind beide Medikamente ausschließlich für andere Indikationen zugelassen – Bupivacain als Lokalanästhetikum zur Nervenblockade bei operativen Eingriffen oder chronischen Schmerzen, Rimegepant als oraler CGRP-Antagonist zur akuten Migränetherapie. Eine Anwendung im Rahmen einer Osteosarkom-Behandlung wäre derzeit rein experimentell und nur im Kontext einer genehmigten klinischen Studie zulässig. Die vorliegende PNAS-Studie liefert zwar überzeugende präklinische Daten aus Mausmodellen und humanen Gewebeanalysen, jedoch fehlen noch Phase-I/II-Studien am Menschen, die Sicherheit, Dosierung und Wirksamkeit bei Krebspatienten prüfen. Bis zur möglichen Zulassung als Anti-Tumor-Therapie könnten Jahre vergehen.
Welche Nebenwirkungen haben die Medikamente bei Tumoreinsatz?
In der präklinischen Mäuse-Studie traten keine schwerwiegenden systemischen Toxizitäten auf, was auf ein günstiges Sicherheitsprofil hinweist. Bei Bupivacain ist bei lokaler Infiltration vor allem mit temporärer motorischer Schwäche oder Sensibilitätsstörungen im Injektionsbereich zu rechnen – Effekte, die bei peri-tumoraler Applikation gewünscht sein könnten. Bei systemischer Gabe von Rimegepant (oral) sind in der Migräne-Therapie leichte bis moderate Nebenwirkungen wie Übelkeit, Schwindel oder Müdigkeit beschrieben; in Langzeitstudien wurde eine leichte Erhöhung der Leberwerte (ALT/AST) beobachtet, weshalb regelmäßige Laborkontrollen empfohlen werden. Langzeiteffekte bei onkologischen Patienten – insbesondere in Kombination mit Chemotherapie – sind noch nicht untersucht.
Warum fördern Nerven das Tumorwachstum?
Sensorische Nervenenden sezernieren im Tumormilieu eine Vielzahl neurotroper und angiogener Faktoren, darunter NGF, CGRP, Substanz P und BDNF. Diese Moleküle binden nicht nur an Rezeptoren auf neuronalen Axonen (und fördern so die Nervensprossung), sondern aktivieren parallel Signalwege in Tumorzellen (z. B. PI3K/AKT, MAPK) und Endothelzellen (VEGF-Rezeptoren), was zu erhöhter Proliferation, Migration und Gefäßneubildung führt. Die Studie zeigt, dass Osteosarkomzellen selbst NGF exprimieren und dadurch einen autokrinen/parakrinen Regelkreis etablieren. Dieser „neuro-tumorale Dialog“ erklärt, warum stark innervierte Tumoren aggressiver wachsen und häufiger metastasieren.
Gibt es ähnliche Ansätze bei anderen Krebsarten?
Ja, die neuronale Tumorinteraktion wird zunehmend bei verschiedenen Entitäten untersucht. Bei Pankreaskarzinom fördert perineurale Invasion durch sensorische und autonome Nerven die Metastasierung – hier werden bereits TrkA-Inhibitoren (z. B. Larotrectinib bei NTRK-Fusionen) klinisch eingesetzt. Bei Prostatakrebs korreliert die Dichte sympathischer Nervenfasern mit höherem Gleason-Score; Beta-Blocker (z. B. Propranolol) werden in Pilotstudien getestet. Auch beim triple-negativen Mammakarzinom zeigen CGRP-positive Nerven eine Korrelation mit schlechter Prognose. Der Osteosarkom-Ansatz mit Bupivacain/Rimegepant könnte daher ein Modell für „neuro-onkologische“ Therapien in anderen soliden Tumoren werden.
Wie erkennt man tumorbedingte neuropathische Schmerzen?
Charakteristisch sind brennende, einschießende oder elektrisierende Schmerzen mit nächtlicher Verstärkung, oft entlang der Extremität ausstrahlend. Patienten beschreiben häufig Allodynie (Schmerz durch leichte Berührung) und Hyperalgesie. Im Gegensatz zu nozizeptiven Schmerzen sprechen sie schlecht auf Opioide an, reagieren aber prompt auf Gabapentinoide (Pregabalin, Gabapentin), Antidepressiva (Duloxetin) oder Lokalanästhetika. In der Studie korrelierte erhöhte CGRP-Expression in DRG-Neuronen direkt mit Schmerzintensität – ein potenzieller Biomarker. Bildgebend zeigt sich oft eine peritumorale Nervenvermehrung in der MRT („nerve-tumor interface“).
Wann starten die ersten Humanstudien?
Das James Laboratory plant für das zweite Quartal 2026 eine investigator-initiierte Phase-I-Studie („OSTEO-NERVE-1“) mit peri-tumoraler Bupivacain-Infiltration bei resektablen Osteosarkomen des Beckens oder der unteren Extremität. Primärer Endpunkt: Sicherheit und lokale Pharmakokinetik. Sekundär wird die Reduktion von CGRP/NGF in Tumorgewebe sowie die Schmerzreduktion (VAS-Skala) erfasst. Parallel läuft eine Kooperation mit der Children’s Oncology Group (COG) zur Integration von Rimegepant in ein pädiatrisches Protokoll. Die Rekrutierung soll über das Johns Hopkins Sidney Kimmel Comprehensive Cancer Center und das Memorial Sloan Kettering Cancer Center erfolgen.
Sind die Ergebnisse auf kindliche Osteosarkome übertragbar?
Ja, und dies ist besonders relevant, da Osteosarkom vorwiegend im Kindes- und Jugendalter auftritt (Peak 15–19 Jahre). In der Studie stammten 70 % der analysierten humanen Biopsien von Patienten unter 18 Jahren – alle zeigten identische NGF-TrkA- und CGRP-Expression wie adulte Proben. Die Signalwege sind ontogenetisch konserviert; zudem exprimieren pädiatrische Osteosarkome häufig höhere Level an neurotrophen Faktoren aufgrund ihrer embryonalen Herkunft (mesenchymale Stammzellen). Die geplante COG-Studie wird explizit Kinder und Jugendliche einbeziehen, um alterspezifische Dosierungen und Toxizitäten zu prüfen.
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Quelle:
- Ramesh, S., et al. (2025). Single-cell sequencing uncovers sensory neuron–mediated CGRP signaling as a driver of sarcoma progression. Proceedings of the National Academy of Sciences. doi.org/10.1073/pnas.2500161122






