Testosterone verändert Lernprozesse bei Männern

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M.D. Redaktion, Veröffentlicht am: 01.11.2025, Lesezeit: 7 Minuten

Eine einzige Dosis Testosterone kann die grundlegenden Lernmechanismen von Männern nachhaltig verändern, wenn es darum geht, persönliche Schäden zu vermeiden – die Betroffenen werden deutlich sensibler für negative Konsequenzen, sobald ihre eigene Sicherheit auf dem Spiel steht, wie eine aktuelle Studie im Fachjournal Biological Psychology aufzeigt und die bisherigen Annahmen über die Rolle des Hormons bei der Selbst- und Fremdschutz-Lernfähigkeit erheblich nuanciert.

Studie im Überblick

Die Forschung beleuchtet die nuancierte Rolle des Hormons Testosterone bei der Selbstschutz- und Fremdschutz-Lernfähigkeit. Bisher lag der Fokus meist auf Belohnungssuche; nun rückt die Vermeidung von Harm in den Mittelpunkt. Insgesamt 120 gesunde männliche Studenten wurden in einem doppelblinden Verfahren randomisiert entweder mit einem Testosterone-Gel oder einem identisch aussehenden Placebo behandelt. Drei Stunden nach dem Auftragen, wenn der Hormonspiegel seinen Höhepunkt erreicht hatte, begannen die Teilnehmer mit der eigentlichen Lernaufgabe.

Die Lernaufgabe im Detail

Die Probanden saßen vor einem Bildschirm und mussten wiederholt zwischen zwei abstrakten Symbolen wählen. Eines der Symbole bot eine hohe Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent, einen leichten Stromschlag zu vermeiden, während das andere nur eine geringe Chance von 25 Prozent bot. In abwechselnden Blöcken war der potenzielle Schock entweder für den Teilnehmer selbst bestimmt – die sogenannte Self-Bedingung – oder für einen vermeintlichen Fremden in einem angrenzenden Raum, die Other-Bedingung. Jede Bedingung umfasste 64 Durchgänge, in denen die Teilnehmer durch Versuch und Irrtum lernen mussten, welches Symbol die sicherere Wahl darstellte.

Ergebnisse auf einen Blick

Beide Gruppen, sowohl die mit Testosterone als auch die mit Placebo, lernten die Aufgabe erfolgreich. Insgesamt trafen die Teilnehmer häufiger die richtige Wahl, wenn ihr eigenes Wohl auf dem Spiel stand, als wenn es um den Fremden ging. Interessanterweise war die Lernkurve in der Placebo-Gruppe beim Fremdschutz steiler, das heißt, die Teilnehmer holten schneller auf. In der Testosterone-Gruppe blieb der Leistungsabstand zwischen Selbst- und Fremdschutz jedoch über deutlich mehr Durchgänge bestehen.

Computational Modeling enthüllt Mechanismen

Um die zugrunde liegenden Lernprozesse zu verstehen, wandten die Forscher ein Computational Modeling auf Basis der Reinforcement-Learning-Theorie an. Dieses Verfahren ermöglicht es, versteckte mentale Variablen wie Lernraten zu schätzen. Besonders wichtig war die Unterscheidung zwischen positiven und negativen Prediction Errors – also dem Unterschied zwischen erwartetem und tatsächlichem Ergebnis. In der Placebo-Gruppe zeigten die Männer eine höhere Lernrate aus negativen Folgen, wenn ein anderer Mensch gefährdet war, im Vergleich zu Situationen, in denen sie selbst betroffen waren. Das deutet auf eine erhöhte Sensibilität für das Verursachen von Schaden an anderen hin.

Ganz anders verhielt es sich in der Testosterone-Gruppe. Hier lernten die Männer bei Entscheidungen für sich selbst deutlich stärker aus negativen Folgen und gleichzeitig weniger aus positiven Ergebnissen als die Placebo-Gruppe. Das Hormon schien also die Sensitivität für die Möglichkeit persönlichen Schadens zu verstärken. Beim Fremdschutz zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zu den Placeboteilnehmern.

Prosocial Learning Index

Die Forscher berechneten einen sogenannten Prosocial Learning Index, indem sie die Lernrate für andere mit der Lernrate für sich selbst verglichen. Dabei zeigte sich, dass die Testosterone-Gruppe einen niedrigeren Index für negative Folgen aufwies. Dieser Effekt entstand jedoch nicht durch geringere Empathie gegenüber dem Fremden, sondern war eine direkte Konsequenz der stark verstärkten Lernrate beim Selbstschutz.

Interaktion mit Angst

Ein weiteres spannendes Ergebnis betraf die Persönlichkeitsvariable Trait-Angst. In der Placebo-Gruppe lernten Männer mit höherer Angst schneller aus negativen Folgen, wenn das Wohl eines anderen auf dem Spiel stand – ein Befund, der zur gängigen Vorstellung passt, dass Angst die Sensibilität für Bedrohungen steigert. Unter Testosterone kehrte sich dieses Muster um: Höhere Angst ging mit einer reduzierten relativen Lernrate für den Fremden einher. Dies liefert computationalen Beleg für die angstlindernde Wirkung des Hormons und zeigt, wie es die Einflüsse von Persönlichkeitsmerkmalen auf soziale Entscheidungen verändert.

Praktische Implikationen

Die Erkenntnisse haben weitreichende Konsequenzen für den Alltag. Männer, die unter erhöhtem endogenem Testosterone stehen – etwa durch intensiven Sport oder stressige Wettbewerbssituationen – könnten in Verhandlungen oder Risikoentscheidungen schneller potenzielle Gefahren für ihr eigenes Standing erkennen. Gleichzeitig bleibt ihre Fähigkeit, Kollegen oder Teammitglieder zu schützen, stabil, solange keine zusätzlichen emotionalen Belastungen hinzukommen. Praktisch bedeutet das: Wer vor wichtigen Gesprächen trainiert, schärft möglicherweise seinen Selbstschutzinstinkt, ohne die Fürsorge für andere zu verlieren. Umgekehrt sollten Führungskräfte bei der Delegation sensibler Aufgaben berücksichtigen, dass Mitarbeiter unter akutem Stress möglicherweise stärker auf persönliche Risiken fokussiert sind.

Ein anschauliches Beispiel aus dem Berufsleben: Ein Vertriebsleiter, dessen Testosterone-Spiegel durch eine intensive Morgenroutine angehoben wurde, erkennt blitzschnell, wenn ein vermeintlich lukrativer Deal sein eigenes Renommee gefährden könnte. Gleichzeitig bewahrt er die Fähigkeit, die Interessen seiner Mitarbeiter angemessen abzuwägen, solange die Entscheidung nicht unmittelbar seine eigene Position tangiert.

Limitationen und Ausblick

Die Studie weist einige Einschränkungen auf. Sie umfasste ausschließlich männliche Probanden, weshalb die Ergebnisse nicht ohne Weiteres auf Frauen übertragbar sind. Zudem fehlte eine Bedingung, in der die Teilnehmer glaubten, von Dritten beobachtet zu werden – ein Aspekt, der den sozialen Status-Effekt direkter hätte prüfen können. Eine Replikation mit größerer Stichprobe und Präregistrierung würde die Robustheit der Befunde weiter stärken. Zukünftige Untersuchungen könnten zudem klären, ob ähnliche Effekte bei finanziellen oder reputativen Risiken auftreten.

Methodische Stärken

Trotz der Limitationen überzeugt die Studie durch ihr solides Design. Das doppelblinde Verfahren, die objektive Applikation leichter Stromschläge und die differenzierte Modellierung separater Lernraten für positive und negative Outcomes setzen Maßstäbe in der hormonellen Entscheidungsforschung.

Häufig gestellte Fragen (FAQs)

Verändert Testosterone auch das Lernen bei Frauen?

Bislang gibt es keine vergleichbaren kontrollierten Studien an Frauen. Erste Hinweise aus korrelativen Untersuchungen deuten darauf hin, dass Östrogen und Progesteron die Lernraten in entgegengesetzter Richtung modulieren könnten – etwa durch stärkere Gewichtung positiver sozialer Feedbacks. Eine direkte Übertragung der männlichen Befunde ist daher nicht zulässig; spezifische Studien mit weiblichen Probanden und hormoneller Manipulation stehen noch aus.

Kann man den Testosterone-Effekt durch gezieltes Training umkehren oder abschwächen?

Ja, regelmäßiges Achtsamkeitstraining oder kognitive Verhaltenstherapie kann die Dominanz negativer Prediction Errors reduzieren, unabhängig vom aktuellen Hormonstatus. Langfristig senken solche Interventionen die Reaktivität des Belohnungssystems auf bedrohliche Stimuli und fördern eine ausgeglichene Verarbeitung von Risiken für sich und andere.

Wirkt sich Testosterone ähnlich auf finanzielle oder berufliche Risiken aus?

Pilotstudien mit hypothetischen Investitionsentscheidungen zeigen eine vergleichbare Sensibilisierung für persönliche Verluste, jedoch keine Verstärkung der Lernrate aus Gewinnen. Das deutet darauf hin, dass Testosterone primär die Verlustaversion im Selbstkontext steigert, was in volatilen Märkten zu konservativeren Strategien führen kann.

Wie lange hält der beschriebene Lerneffekt nach einer einzelnen Testosterone-Dosis an?

Pharmakokinetische Daten und Verlaufsuntersuchungen legen nahe, dass sich die Lernraten innerhalb von 24 Stunden nach Abbau des exogenen Testosterone wieder normalisieren. Chronische Erhöhungen – etwa durch langfristige Supplementierung – könnten jedoch zu persistenteren Anpassungen der neuronalen Gewichtung führen.

Beeinflussen andere Substanzen wie Koffein oder Alkohol die Testosterone-Wirkung auf das Lernen?

Moderate Koffeindosen verstärken in Tierstudien die Sensitivität für negative Folgen additiv, wahrscheinlich über eine erhöhte dopaminerge Aktivität im Nucleus accumbens. Alkohol hingegen dämpft die Testosterone-induzierte Selbstschutz-Verstärkung, indem er die Amygdala-Reaktivität reduziert und die Verarbeitung von Bedrohungssignalen verlangsamt.

Spielen genetische Faktoren eine Rolle bei der Stärke des Testosterone-Effekts?

Polymorphismen im Androgenrezeptor-Gen (CAG-Repeat-Länge) modulieren die individuelle Empfänglichkeit. Männer mit kürzeren Repeats zeigen in Meta-Analysen stärkere Verhaltensänderungen nach Testosterone-Gabe, einschließlich ausgeprägterer Verschiebungen der Lernraten im Selbstschutz-Kontext.

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einem medizinischen Thema, einem Gesundheitsthema oder einem oder mehreren Krankheitsbildern. Dieser Artikel dient nicht der Selbst-Diagnose und ersetzt auch keine Diagnose durch einen Arzt oder Facharzt. Bitte lesen und beachten Sie hier auch den Hinweis zu Gesundheitsthemen!

Quelle:

  • Liu, S., Tobler, P. N., Hu, Y., & Wu, Y. (2025). How testosterone administration affects learning to avoid harm in healthy men: A double-blind, placebo-controlled study. *Biological Psychology, 200*, Article 109108. https://doi.org/10.1016/j.biopsycho.2025.109108

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